11. September 2001
Tagebuch eines Alptraums

DIE ZEIT Nr. 38
Ausgabe vom 13. September 2001
Dossier Seiten 15 - 17

Das amerikanische Inferno

11. September 2001: Der Tag, an dem der Tod nach Manhattan und Washington kommt und die Supermacht durch Terror verwundet wird.

von Thomas Fischermann, Mario Kaiser, Hanns-Bruno Kammertöns, Thomas Kleine-Brockhoff, Peter Müller, Matthias Nass, Marcus von Schmude, Christof Siemes, Stefan Willeke

Irgendetwas ist anders. Irgendetwas fehlt. Einsam steht das alte Wahrzeichen da, das Empire State Building. Aber irgendetwas fehlt. Der Himmel ist perfekt blau an diesem Tag, eine Leinwand, frei von Flugzeugen, aber auch ohne die Türme, die aus ihr herausgeschnitten wurden. Wo vor wenigen Stunden das World Trade Center die Stadt überragte, silbern, symbolisch, scheinbar unverwundbar, stehen zwei Stümpfe, Rauch speiend, weißen, schwarzen, braunen. Alles verschleiernd, die Wunde, die Antworten. Die Sonne scheint und wärmt die Stadt. Ein Tag im Frühherbst. Dienstag, der 11. September 2001.

Auf der Thomas Street kann man die Katastrophe riechen. Die Asche schmecken. Die Benommenheit spüren. Polizisten schreien hinter Masken, ihre Haare, ihre Wimpern, ihre Uniformen, gepudert mit Asche. Sie laufen, gestikulieren, lassen Wasser aus Flaschen in Münder laufen. Zwei umarmen sich. Hinter ihnen speien die Stümpfe wie Vulkane, und lautlos regnet Asche auf die Stadt. Lower Manhattan sieht aus wie ein düsteres Gemälde. Es ist, als sei eine finstere Prophezeiung wahr geworden.
Die Lichter der Rettungswagen blinken. Polizeimotorräder rasen über abgesperrte Straßen, den Stümpfen entgegen, Wagen mit Blutkonserven eskortierend. Ein gepanzerter Polizeiwagen rumpelt ihnen hinterher. Vier Männer in Tarnanzügen entsteigen ihm, sie tragen elektronische Geräte, vorsichtig, fast behutsam. Hinter ihnen parkt ein Geländewagen mit verdunkelten Scheiben. Männer in dunklen Anzügen mit Knöpfen im Ohr steigen aus. Funkgeräte krächzen. Sirenen überall. Die Stadt schreit um Hilfe.
Nein, nicht die Stadt, das ganze Land schreit. Denn nicht nur die beiden Türme des World Trade Centers sind in sich zusammengefallen, getroffen von zwei Passagierflugzeugen, die in der Hand von Entführern für Zehntausende zu Mordwaffen wurden. Binnen Stunden sind die politischen und militärischen Schaltzentralen Amerikas getroffen oder bedroht, das Pentagon, das State Department. Die Ministerien, das Parlament, das Weiße Haus werden evakuiert, die Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Bei Pittsburgh zerschellt eine Boeing 757, offenbar sollte sie in Camp David niedergehen, dem Ort, wo der Frieden zwischen Israel und Ägypten besiegelt wurde.Eine Serie von Anschlägen erschüttert das Land.
Bis Mittwoch früh sind die Verantwortlichen für diesen wohl größten Terroranschlag der Weltgeschichte noch nicht gefunden. Sicher ist nur: Ein komplexer und koordinierter Angriff auf die Vereinigten Staaten fand statt. "Eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt", wie der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder sagt. "Ein Angriff auf die Freiheit", wie US-Präsident George W. Bush meint.
Gleich nach den Anschlägen wechseln Bezichtungungen mit Dementis ab. Alle weisen in die islamische Welt. Denn dort wird vom ersten Augenblick an der Urheber des Terrors vermutet. Die afghanischen Taliban verdammen die Anschläge und sagen, Osama bin Laden, der saudische Terrorist, den sie beherbergen, sei dazu nicht in der Lage. Die Fundamentalisten von der palästinensischen Hamas wollen es nicht gewesen sein, genauso wenig die Volksfront zur Befreiung Palästinas. Und PLO-Chef Arafat zeigt sich "schockiert". Wer immer es gewesen sein mag: Nach dieser Bluttat wird die Welt eine andere sein. Niemand weiß, wie die Vereinigten Staaten reagieren werden, ob sich die Wucht dieser Terroranschläge mit ihrer ungeheuren symbolischen Kraft zu einer weltpolitischen Krise auswachsen wird. Denn in der Nacht zum Mittwoch ist noch unklar, ob jene Flammen, die plötzlich auch aus der afghanischen Hauptstadt Kabul gezeigt werden, Resultat amerikanischer Bombadierungen sind. Die amerikanische Regierung dementiert es sogleich. In jedem Fall dürfte dieser 11. September 2001 die Welt noch lange beschäftigen.

Martin Tulinski hat den Anschlag auf das World Trade Center wahrscheinlich nur überlebt, weil er zu spät zur Arbeit kommt. Ein paar Minuten sind es nur, aber sie entscheiden über Leben und Tod. Es ist 14.45 Uhr [8.45 Uhr Ortszeit], als Tulinski ins World Financial Center will. Das ist das Nachbargebäude des World Trade Centers. Tulinski arbeitet dort bei Merrill Lynch. Plötzlich hört er ein Geräusch über seinem Kopf. Er hört, was alle auf der Straße hören. Und wie die meisten anderen Passanten blickt er kaum auf. Wahrscheinlich Turbinen, ein tief fliegendes Flugzeug. Verkehrslärm gibt es dauernd in und über diesem Moloch New York. Aber dieses Flugzeug, ein Verkehrsjet, fliegt besonders tief. Sekunden später bohrt sich sein Rumpf in den Stahlbetonrumpf des einen Towers. Die Nase des Jets dringt durch die Fenster ein. Die Maschine hinterlässt ein Abbild im Gebäude. Sogar die Flügel und der dicke Flugzeugbauch sind erkennbar. Später wird man wissen: Die Maschine, American-Airlines-Flug 77 mit 64 Menschen an Bord, ist in den nördlichen Turm gerast.
Augenzeugen werden erzählen, dass sie in diesem Moment an einen Gag geglaubt haben oder einen stunt, eine dieser waghalsigen Szenen, die sie mit lebensmüden Schauspielern für Katastrophenfilme drehen. Aber dass ein Flugzeug das World Trade Center aufschlitzt, denkt Martin Tulinski, "das glaubt doch kein Mensch". Nicht mal einer, der es erlebt. Aber dann packt Tulinski ein Instikt, ein Überlebensinstinkt. Er beginnt, einfach zu laufen. Zum Wasser, wo er mit ein paar anderen Flüchtenden eine Fähre anhalten will. Doch es kommt keine, nicht an diesem Tag. Also Richtung Norden, "einfach drauf los".
Tulinski trägt Anzug und Atemmaske. Die hat ihm jemand in die Hand gedrückt, er wischt sie mit einem feuchten Tuch ab, denn überall ist Kalkstaub. Die Überlebenden sehen aus, als seien sie aus einem Betonwerk gekommen. Und sie bringen Bilder mit, Erinnerungen. Tulinski hat Menschen gesehen, die aus Fenstern sprangen. "Die haben das nicht überlebt, natürlich nicht. Die hatten die Wahl, in Flammen zu sterben oder beim Aufprall auf dem Boden". Er erzählt das in aller Ruhe, als hätte er es in einem Film gesehen, und wohlerzogen wünscht er zum Abschied noch einen schönen Tag.
15.06 Uhr [9.06 Uhr Ortszeit]: Eine weitere Maschine, ein offenbar entführtes Passagierflugzeug, American-Airlines-Flug 11, auf dem Weg von Boston nach Los Angeles mit 92 Menschen an Bord, nimmt Kurs auf den anderen Turm des World Trade Centers und stößt mitten hinein. Bis zu 50 000 Angestellte haben dort ihren Arbeitsplatz. Auch hier schießen Flammen aus dem Hochhausloch, und nun scheint jedermann klar: Kein Unfall ereignet sich hier. In diesem Moment ist Downtown New York schon auf den Straßen: die einen im großen Treck, in einer langen Kolonne Büroangestellter, Lieferanten, Anwohner, Ladenverkäufer, die sich im Fußtempo in sicher scheinende Gegenden bewegen. Fast vor jedem Haus stehen die Bewohner, gebannt starren sie nach Süden auf die brennenden Türme. "Rennen Sie, rennen Sie!", brüllt ein Polizist in blauer Uniform. "Sehen Sie den Rauch? Der kann Sie umbringen!" Nirgends Panik, jedenfalls nicht ein paar Blocks von der rauchenden Ruine entfernt. Unverständnis für manchen menschlichen Ausbruch, Unvermögen auch, genauso Schaulust, die Sucht, das Drama zu ästhetisieren. Aber keine Panik. Ein ruhiger, gesitteter Zug von Menschen Richtung Uptown. Menschen in Arbeitskleidung, die hinkenden Leuten helfen.
15.24 Uhr [9.24 Uhr Ortszeit]: In Sarasota, Florida, hat Präsident George W. Bush gerade in einer Schulklasse für seine Bildungsreform geworben, Kindern geraten, fleißig zu lernen, als ihm plötzlich sein Generalstabschef die Meldung aus New York ins Ohr flüstert. Bush legt sich fest: "eine nationale Tragödie" und "offensichtlich eine terroristische Attacke". Der Präsident telefoniert mit seinem Vize, gibt Anweisungen: Der nationale Sicherheitsrat muss zusammenkommen, sofort. Bush verlässt die Schule. Kamerateams umringen ihn. Er bittet sein Land, eine Schweigeminute einzulegen. Danach sagt er: "Wir werden die Jagd auf diejenigen eröffnen, die diesen Anschlag verübt haben." Und schließlich: "Gott sei mit Amerika."
15.35 Uhr [9.35 Uhr Ortszeit]: Ein weiteres, von Terroristen übernommenes Flugzeug, eine Boeing 767 mit 81 Passagieren, stürzt ins Pentagon, das Herz der amerikanischen Verteidigungspolitik, wo Minister Donald Rumsfeld seinen Tagesgeschäften nachgeht. Wenig später bricht im Außenministerium Feuer aus, vermutlich verursacht durch eine Autobombe. Die Luftfahrtaufsicht FAA lässt alle amerikanischen Flughäfen sperren. Keine der 4000 Maschinen, die sonst pro Sekunde am amerikanischen Himmel kreisen, ist mehr zu sehen. In Chicago wird vorsichtshalber der gigantische Sears-Tower abgeriegelt, in New York das Gebäude der Vereinten Nationen geräumt. US-Präsident Bush fliegt mit der Präsidentenmaschine Airforce 1 Richtung Washington.
Plötzlich, um 16 Uhr [10 Uhr Ortszeit], erschüttert ein Geräusch wie das einer Explosion Manhattan. Ein Schrei geht durch die Menge. Aber nur ein paar rennen, die anderen gucken auf die Türme des World Trade Centers: Wie Konfetti splittert Glas herab, der eine Turm sinkt zusammen, Staub steigt wie ein Pilz nach oben.
Um 16.29 Uhr [10.29 Uhr Ortszeit] fällt der zweite Turm, wieder folgt eine dumpfe Explosion. "Oooooooooh", macht die Menge. "Es kommt runter, es kommt runter!", brüllt einer. Außer der Rauchwolke ist nichts mehr zu sehen. "Laufen Sie!", brüllt ein Polizist die Menge an. "Wenn sich der Wind dreht, wird hier keiner mehr atmen." Aber in den Straßen von New York hat gerade erst die kollektive Verarbeitung der Ereignisse eingesetzt. Viele begreifen erst jetzt, was passiert ist. Es ist still, die meisten schauen magnetisiert auf die Rauchsäule. Am Straßenrand sitzt eine junge Frau, hat das Gesicht in die Hände vergraben und weint. Einige umarmen sich, Freudentränen des Wiedersehens fließen. Wer sich nicht zufällig begegnet, muss bange Stunden durchstehen. Denn das Mobiltelefonnetz ist zusammengebrochen, fast jeder versucht, sein Überleben daheim zu melden - oder das Schicksal von Freunden, Kollegen, Verwandten zu erfragen.
Die Polizei verbarrikadiert den Weg in Richtung Süden. Vor einer Polizeiblockade ist eine Frau weinend zusammengebrochen, zwei Beamte leisten erste Hilfe. Rauch arbeitet sich langsam durch die Straßenschluchten in Richtung Norden vor, jetzt steigt aus den Gullys Qualm; ab und zu Sirenen von Polizeiwagen, Ambulanzen, Feuerwehrwagen; über der Szene kreisen Helikopter. Viele haben ihre Autoradios oder Ghettoblaster laut gestellt. Radio wird wieder zum Medium der Information. Vor jedem Gerät bilden sich Menschentrauben. Die Stimme der Radiomoderatorin überschlägt sich. "Das ist ein Anschlag nie dagewesenen Ausmaßes", sagt sie. "Das ist real. Das ist kein Film."
Es gibt aber auch Menschen wie Thomas Maciejewski. Menschen, die die Dramatik des Moments zur Selbstdarstellung nutzen. Es ist 16.40 Uhr [10.40 Uhr Ortszeit], und Maciejewski gibt Fernsehinterviews in Serie, neun Blocks vom früheren World Trade Center entfernt. Er lächelt in die Kamera, dann in eine weitere. Jetzt zeigt er seinen Passierschein für das World Trade Center vor. Er genießt es, in die Rolle des Überlebenden schlüpfen zu können. "Alle meine Freunde arbeiten da drin", sagt er, "im 38. Stockwerk." Und er lächelt wieder. "Ich bin total geschockt." - "Sagen Sie das noch einmal", sagt der Kameramann. "Ich bin total geschockt", sagt Maciejewski. Und setzt zu einer langen Rede an. "Ich habe jetzt keinen Arbeitsplatz mehr. Das ist, als hätte ich kein Zuhause mehr." Die ganze Szene erinnere ihn an diesen Film, "Pearl Harbour, haben Sie den gesehen?"
16.32 Uhr [10.32 Uhr Ortszeit]: In Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania zerschellt eine gekidnappte Boeing 757 der Gesellschaft United Airlines, auf dem Flug von Newark nach San Francisco. Das vierte entführte Flugzeug. Der amerikanische Krisenstab tagt. Einen transatlantischen Flugverkehr gibt es nicht mehr. Jede europäische Maschine, die Grönland noch nicht überquert hat, wird zurückgeschickt, die übrigen werden Richtung Kanada umgeleitet. Kurz darauf schließen die Vereinigten Staaten die Grenzen zu Kanada und Mexiko. Die Weltbörsen zittern. An der Wall Street wird der Handel eingestellt, Frankfurt handelt weiter. Der Deutsche Aktienindex fällt auf annähernd 4100 Punkte. Der Ölpreis schnellt um 12 Prozent hoch. Der Benzinkonzern British Petroleum steigert seinen Aktienkurs in den folgenden Stunden um 4,9 Prozent.
16.44 Uhr [10.44 Uhr Ortszeit]: Ein Gerücht kommt auf, dass jeder glauben mag: Eine radikale palästinensische Splittergruppe habe sich zu den Anschlägen auf das World Trade Center bekannt. Später dementiert der Chef dieser Gruppe jede Beteiligung. PLO-Führer Jassir Arafat spricht den Amerikanern sein Beileid aus "im Namen des palästinensischen Volkes". Er sagt: "Unglaublich, unglaublich." In Moskau werden die Sicherheitsmaßnahmen verschärft, um ähnlichen Angriffen vorzubeugen. Die Luftabwehr in ganz Russland wird in Gefechtsbereitschaft versetzt. Präsident Putin lässt Bush ausrichten, dass er "die weitere Entwicklung dieser schrecklichen Tragödie" am Fernsehschirm verfolgen werde. In einem Telegramm an Bush schreibt Putin: "Ohne Zweifel müssen derartige unmenschliche Aktionen bestraft werden." Am Reichstagsgebäude in Berlin werden die Fahnen auf Halbmast geflaggt. Die laufende Haushaltsdebatte ist abgebrochen, Kanzler Schröder sagt seinen Auftritt bei der Eröffnungsfeier der Internationalen Automobilausstellung ab und ruft den Bundessicherheitsrat zusammen.
17 Uhr [11 Uhr Ortszeit]: In den Straßen Manhattans ist nach der Wortlosigkeit des ersten Schocks nun ein Dauergespräch ausgebrochen. Die Menschen reden, miteinander und durcheinander - amerikanisch und chinesisch, spanisch, afrikanische Sprachen. Die Bewältigung dieses kolossalen Ereignisses hat eingesetzt. Ein jeder erzählt jedem, was er gesehen und erlebt hat.
Jetzt ist in den Fernsehern der Stadt der Bürgermeister zu sehen. Rudolph Guiliani rechnet mit einer "gewaltigen Anzahl von Toten. Es sind sicher mehr, als irgendjemand sich jetzt ausmalen kann". Der Bürgermeister ruft zu Blutspenden auf. 2000 Mitglieder der Nationalgarde sollen anrücken. In Washington werden alle Regierungsgebäude evakuiert. Kampfjets patrouillieren über der Hauptstadt, um weitere Angriffsflugzeuge abwehren zu können. Noch immer hält sich das Gerücht, dass mit weiteren entführten Maschinen und weiteren Attacken zu rechnen sei. Der Präsident und seine Sicherheitsberater spekulieren: Wer ist der Drahtzieher dieses schier unfassbaren Infernos? Eine organisierte Truppe von Irren? Ein Terrorkommando? Der in Afghanistan versteckte Millionär und Topterrorist Osama bin Laden, dem schon die Anschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam vor drei Jahren zur Last gelegt werden? Israel lässt weltweit alle diplomatischen Vertretungen evakuieren. In den palästinensischen Flüchtlingslagern im Süden des Libanon tanzen Männer, Frauen und Kinder vor laufenden Fernsehern auf den Straßen und feiern einen Anschlag, der den Erzfeind Amerika wanken lässt. Einige schreien: "Gott ist groß!" Kurz darauf kündigt Präsident Bush "Vergeltungsschläge" an. "Wir werden der Welt zeigen, dass wir die Herausforderung bestehen."
17.24 Uhr [11.24 Uhr Ortszeit]: Der Brand im Pentagon scheint weitgehend gelöscht. Boote bringen Tausende Bewohner Manhattans über den Hudson River. In der Stadt spricht sich herum, dass der Terrorist bin Laden vor drei Wochen gedroht habe, Anschläge gegen die Weltmacht zu verüben. Die amerikanische Luftaufsicht gibt im Nachhinein zu, die Kontrolle über die vier entführten Maschinen verloren zu haben. In Orlando schließt der Walt-Disney-Park, in Chicago die Rohstoffbörse.
18.20 Uhr [12.20 Uhr Ortszeit]: Die Meldung von der eilig einberufenen Pressekonferenz der Taliban-Milizen in Afghanistan fliegt um die Welt. Weder bin Laden noch seine Gefolgsleute, heißt es, hätten mit den Anschlägen etwas zu tun. Wer dann? Bush erneuert sein Wort vom "Vergeltungsschlag". Aber gegen wen? Gegen den Sudan, wird später kolportiert, aber auch das ist nur ein Gerücht.
18.42 Uhr [12.42 Uhr Ortszeit]: "Nach dem Terroranschlag in den USA", meldet ein deutscher Finanzdienstleister, "verlieren derzeit besonders Versicherungsaktien stark an Wert." Allianz ist um 14 Prozent eingebrochen.
20.30 Uhr [14.30 Uhr Ortszeit]: Wo ist Bush in diesem Augenblick? Gehört er nicht in diesen Stunden ins Weiße Haus? Kann es stimmen, dass Washington ihm an diesem Tag nicht geheuer ist? In Nebraska könnte er sein, wird vermutet, wo ein Militärflughafen steht, angelegt zu Zeiten des Kalten Krieges. Aber es gibt keinen Kalten Krieg mehr, es gibt einen anderen, ein Inferno. "Amerika hat zu lange mit auf dem Rücken verbundenen Händen dagestanden", beginnt der ehemalige Außenminister James Baker laut zu denken, und der ehemalige Polizeichef von New York, der seine Stadt als "Kriegsgebiet" vorfindet, sucht nach persönlichen Worten, findet aber nur eines: "Albtraum".

In Deutschland ist es dunkel geworden. Ein denkwürdiger Tag geht zu Ende. "Ein Tag, der in Schande weiterleben wird!" Diesen Satz sagt kein deutscher Poltiker, auch nicht George W. Bush, er stammt von Präsident Franklin D. Roosevelt und wurde am 7. Dezember 1941 gesprochen. Niemals in den 60 Jahren seit dem japanischen Angriff auf denMarinestützpunkt Pearl Harbor ist die amerikanische Nation so verwundet worden wie am Dienstag. Die hoch gerüstete Supermacht erkennt in ohnmächtiger Wut, wie wehrlos sie ist gegen den unheimlichen, unsichtbaren Gegner.

© by Thomas Fischermann, Mario Kaiser, Hanns-Bruno Kammertöns, Thomas Kleine-Brockhoff, Peter Müller, Matthias Nass, Marcus von Schmude, Christof Siemes, Stefan Willeke.

Mit freundlicher Genehmigung des Zeit Verlages.
Mein besonderer Dank gilt, Frau Ruth Viebrock, aus der Abteilung Zeit-Nachdrucke.

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